
Das disruptive Potenzial von Agentic Artificial Intelligence
Hat Agentic AI das Potenzial, einen Paradigmenwechsel im Risikomanagement anzustoßen? Die Voraussetzungen klingen gut: Intelligente Softwareagenten, die selbstständig analysieren, entscheiden und Prozesse steuern, können Instrumente für tiefgreifenden Wandel sein. Doch wie sieht es in der Praxis aus? Darüber diskutierten rund 80 ExpertInnen beim FIRM-Workshops Artificial Intelligence am 19. Mai 2025.
AI-Anwendungen halten immer stärker Einzug in verschiedenste Lebens- und Geschäftsbereiche, auch im Risikomanagement. FIRM hat daher alle Fach-Round Tables zu einem übergreifenden Austausch eingeladen, um die aktuellen Trends und Potenziale rund um AI-Anwendungen zu diskutieren. Einblicke in Entwicklung und Bankpraxis gaben die KI-Experten Dr. Jochen Papenbrock (NVIDIA), Jan Jelovsek (ING Deutschland), Dr. Christoph Anders (KPMG) und Dr. Til Bünder (BCG). Moderiert wurde der Workshop von Dr. Sebastian Fritz-Morgenthal (advisense).
Agentic AI: Von der Idee zur industriellen Umsetzung
Den Auftakt machte Dr. Jochen Papenbrock. Er stellte das Konzept der AI Factory vor – ein neues Betriebsmodell für Unternehmen, um KI-Infrastruktur skalierbar, sicher und produktiv aufzubauen. Zentrale Rolle spielen dabei Agenten-basierte Systeme („Agentic AI“), die nicht nur auf Anfragen reagieren, sondern Aufgaben eigenständig planen, ausführen und bewerten können. Damit könnten sie mittelfristig die Entwicklung klassischer Softwareanwendungen zu einem großen Teil ersetzen und faktisch zu digitalen Mitarbeitenden im Unternehmen werden.
Mit Hilfe der AI Factory lassen sich unternehmenseigene Daten effizient in verwertbare Intelligenz umwandeln – etwa zur Automatisierung von Risikoanalysen, regulatorischer Dokumentation oder Kundeninteraktionen. NVIDIA stellt hierfür nicht nur die nötige Rechenleistung bereit (z. B. über GPU-optimierte Systeme und Inference-Microservices), sondern auch spezialisierte Toolkits für modellbasierte Entscheidungsfindung. Papenbrock betont, dass insbesondere die Fähigkeit des Reasonings, also der nachvollziehbaren und kontextbasierten Schlussfolgerung zum Schlüssel für vertrauenswürdige KI-Systeme im Finanzbereich wird.
Link zur Präsentation Papenbrock
Kreditrisikomodelle mit KI stärken
Auch im Bereich der regulatorischen Kreditrisikomodelle (IRB) schreitet der KI-Einsatz voran. Jan Jelovsek zeigte auf Basis der Erfahrungen von ING auf, wie moderne Machine-Learning-Verfahren wie XGBoost, LightGBM oder Explainable Boosting Machines (EBMs) helfen können, die Prognosegüte und Interpretierbarkeit von PD- und LGD-Modellen zu verbessern.
Ergänzend wurde das Engagement im BSI-Projekt AICRIV-Finanz hervorgehoben, in dem gemeinsam mit weiteren Institutionen konkrete Prüfkriterien, -anforderungen und -methoden für KI-Systeme in der Finanzwirtschaft entwickelt und erprobt wurden – ein wichtiger Beitrag zur Umsetzung des EU AI Act und zur Förderung vertrauenswürdiger KI im Kreditrisikokontext. Wie die Use-Cases in der praktischen Anwendung aussehen, zeigte Ulf Menzeler von d-fine.
Link zur Präsentation Jelovsek
KI-Risikomanagement neu denken
Dr. Christoph Anders (KPMG) brachte die Learnings aus der KPMG RiskTech Konferenz in die Diskussion ein. Unter dem Motto „Risikomanagement in Banken neu gedacht“ wurde deutlich, dass Technologie, Organisation und Menschen künftig noch stärker zusammengedacht werden müssen. Die Integration von GenAI, insbesondere in Form agentischer Systeme, erfordert neue Governance-Strukturen, klare Zuständigkeiten sowie die gezielte Förderung von AI Literacy im gesamten Unternehmen.
Ein zentrales Thema war auch die Einordnung von KI-Anwendungen im Rahmen des EU AI Acts. Zwar gelten viele Use-Cases in der Finanzbranche formal nicht als „Hochrisiko-Systeme“, doch insbesondere im Kontext von automatisierten Kreditentscheidungen muss dieser Breite der Definition im Rahmen der Umsetzung Rechnung getragen werden. Erkenntnisse aus den Diskussionen der KPMG RiskTech-Konferenz umfassen ein proaktives KI-Risikomanagement, das über die klassische Modellvalidierung hinausgeht und Aspekte wie Cyberrisiken, Bias-Prävention und Kontrollarchitektur berücksichtigt.
Notwendigkeit von AI-Literacy
In der anschließenden Diskussion galt der Fokus den Themen AI Literacy – also die Fähigkeit, künstliche Intelligenz zu verstehen, kritisch einzuordnen und kompetent anzuwenden – sowie der Frage nach den Einsatzmöglichkeiten im Risikomanagement. Die genannten Use-Cases (von denen viele noch in der Konzeption oder Entwicklung sind) zeigen, dass AI aktuell im Wesentlichen zur Steigerung von Effizienz und Effektivität genutzt wird. Ein Paradigmenwechsel hat bislang allerdings noch nicht stattgefunden. Dafür seien die Anwendungen noch zu fehleranfällig und auch die aufsichtsseitig geforderte Nachvollziehbarkeit stellt für Use Cases eine besondere Herausfoderung dar. Dass mit den immer weiter entwickelten Anwendungen aber ein enormes Potenzial für neue Workflows und neue Ansätze beispielsweise bei der Szenarioanalyse verbunden ist, erwarten die meisten ExpertInnen.
Der Workshop lieferte eine gute Basis, um im Rahmen des Round Table Artificial Intelligence noch tiefer in die Anwendungsmöglichkeiten von Generative und Agentic AI im Risikomanagement einzusteigen.