Jochen Felsenheimer
Die von Harry M. Markowitz 1952 entwickelte „Modern Portfolio Theory“ stellt seit Jahrzehnten den zentralen Bau- stein der Portfoliokonstruktion dar und beeinflusst unser Denken bezüglich der Zusammensetzung von effizienten Portfolien bis heute maßgeblich. Die heute von der großen Mehrheit der Investoren angewendeten Allokationsmodelle und Investmentstrategien beruhen nach wie vor auf den Prinzipien dieses mehr als 70 Jahre alten Ansatzes. Für seine herausragende Arbeit ist Markowitz folgerichtig mit dem Nobelpreis bedacht worden. Es geht hier also in keiner Weise darum, das Modell grundsätzlich in Frage zu stellen. Es geht vielmehr um die Frage, ob angesichts der jüngsten Entwicklungen an den Finanzmärkten die Annahmen, die modellinhärenten Mechanismen und auch die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen einer Überprüfung standhalten.
Hierbei handelt es sich zum Teil um altbekannte Kritikpunkte, deren Interpretation allerdings jüngst an Bedeutung gewonnen hat. Wenn die letzten Jahrzehnte persistente und strukturelle Veränderungen an den Finanzmärkten stattgefunden haben, hat das unausweichlich auch Auswirkungen auf die Preismechanismen an denselben. Vor diesem Hintergrund müssen die Annahmen und Schlussfolgerungen der Kapitalmarkttheorie im Allgemeinen in Frage gestellt werden. Dies betrifft insbesondere die nicht mehr ganz so moderne, die nun eher als klassisch zu bezeichnende, Portfoliotheorie.
Finanzkrisen als inhärentes Marktphänomen
Um die Funktionsweise der Finanzmärkte seit dem Ende des letzten Jahrtausends zu verstehen, ist es unabdingbar sich mit deren Evolution derselben auseinander zu setzen. Besondere Erkenntnisse kann man hierbei durch die Analyse von Finanzkrisen erlangen. Es lässt sich zeigen, welche Zusammenhänge zwischen den einzelnen Krisen der letzten Jahrzehnte bestehen. Man kommt zu dem Schluss, dass es sich keineswegs um eine Verkettung unglücklicher Umstände handelt, sondern vielmehr um eine logische Ursache-Wirkungs-Beziehung vom Platzen der Technologieblase zum Anfang des Jahrtausends bis hin zum Inflationsschock in 2022. Das gilt umso mehr, da Krisensituationen aufgrund der fortschreitenden Globalisierung der Güter- und der Integration der Kapitalmärkte meist einen globalen Charakter aufweisen, also nicht regional oder sektoral beschränkt bleiben.
Eine zentrale Erkenntnis der Analyse von Finanzkrisen besteht darin, dass diese ein inhärentes Phänomen an den Märkten darstellen und es nur eine Frage der Zeit ist, wann die nächste Krisensituation ein- tritt. Es handelt sich also nicht um „tail events“ – also extrem außer- gewöhnliche Ereignisse –, sondern vielmehr um eine normale Phase im Zyklus der Finanzmärkte. Die Reaktionen der Regulierungsbehörden, der staatlichen Instanzen aber auch der Marktteilnehmer auf diese Krisen ist indes der Grund dafür, dass Krisen strukturelle Veränderungen nach sich ziehen, weshalb sich viele, über Jahr- zehnte geltende, „Glaubenssätze“ nach Finanzkrisen oftmals ihre Gültigkeit einbüßen.
Jochen Felsenheimer (2024):
Die Portfolio-Revolution – Das Ende der klassischen Portfoliotheorie, Weinheim 2024, ISBN: 978-3-527-51170-9
Finanzmärkte funktionieren anders als Modellwelten
Jahrzehntelang geltende „Gesetzmäßigkeiten“ müssen vor diesem Hintergrund also immer wieder überprüft werden. Auch wenn die Bewertungsmethoden an den Finanzmärkten auf mathematischen Modellen beruhen, stellen die Mechanismen an denselben in keiner Weise eine naturwissenschaftliche Konstante dar. Finanzmärkte funktionieren nur äußerst selten so wie es die Modellwelt prognostiziert. In den letzten zwei Dekaden kam es indes zu einigen Strukturbrüchen, die eine Anpassung dieser Modellparameter erfordern. Wir haben es mit einer sich entwickelnden Marktstruktur zu tun, die Auswirkungen auf die zentralen Preismechanismen an den Finanzmärkten mit sich bringt. Einerseits müssen die Rollen des Staates aber auch der Zentralbanken neu interpretiert werden, andererseits spielen Phänomene wie das Auftreten neuer Marktteilnehmer oder die zunehmende Bedeutung sozialer Netzwerke eine Rolle bei der Ableitung von Gleichgewichtspreisen, während auch der Hype um passive Indexinvestment oder Regeln zum nachhaltigen Investieren eine zunehmend prominente Rolle zukommt.
Populäre Investment-Strategien müssen kritisch bewertet werden
Folgt man dieser Argumentation, müssen ebenso etablierte wie populäre Investment-Strategien kritisch bewertet werden. Auch wenn der Siegeszug von ETFs weiter anhält, darf man durchaus hinterfragen, ob dieser angesichts kaum haltbarerer Annahmen weiterhin sinnstiftend ist. Eine mögliche Alternative zu diesen Investmentansätzen kann im „Diskretionären Portfolio Management“ gesehen werden, welches auf situationsabhängigen Investmentstrategien basiert. Keinen starren Regeln folgend können fallweise attraktive Auszahlungsprofile geschaffen werden, die denen klassischer Investmentstrategien überlegen sind. Hierzu existieren eine Vielzahl an Beispielen, wie etwa Klagesituationen, das Ausnutzen von Verwerfungen während eines Insolvenzprozesses, spezifische Opportunitäten im Derivatemarkt durch den Einsatz exotischer Instrumente oder vielfältige Formen der Arbitrage zwischen verschiedenen Segmenten des Finanzmarktes.
So verlockend diese Aussicht auch ist, sie bringt zwei Anforderungen mit sich: Investoren müssen sich einerseits in komplexe Themen einarbeiten und andererseits ist der Einsatz derivativer Instrumente erforderlich. Auch wenn diese Strategien nicht von allen Investoren selbst umgesetzt werden können, ist es für jeden Investor vorteilhaft, ein Verständnis für diese Art der Analyse und für die spezielle Investment-Technik zu entwickeln. Dieses Verständnis ist die Voraussetzung dafür, Opportunitäten zu erkennen und potenzielle „Investment-Fallen“ zu umgehen.
Diskretionäres Portfoliomanagement erfordert alternative Portfolioparameter
Diskretionäres Portfoliomanagement erfordert in der Praxis die Etablierung alternativer Portfolioparameter. Solche, die eben nicht darauf basieren, dass Vermögenswerte an den Finanzmärkten normalverteilte Renditen produzieren. Und es existieren weitere Dimensionen des Risikos, denen mit Diversifikation nicht beizu- kommen ist. All das führt dazu, dass das Portfoliomanagement vor völlig neuen Herausforderungen steht.
Es ist der Komplexität der Problemstellung geschuldet, dass es keine einfache Lösung für jede erdenkliche Situation in der Zukunft geben kann.
Jochen Felsenheimer
Ein zentrales Problem stellt die Bedeutung des Korrelationsparameters dar. Der auf täglichen Renditen basierende Gleichlauf einzelner Portfoliobestandteile stellt nach wie vor den entscheidenden Parameter zur Optimierung von Portfolien dar – auch wenn hinreichend erwiesen ist, dass gerade die strukturellen Brüche von Korrelationsbeziehungen in Krisenzeiten enorme Herausforderungen für die Investoren mit sich bringen. Aus Investorensicht muss gerade in „tail events“ sichergestellt werden, dass der Gleichlauf der Investments reduziert wird. Also genau dann, wenn eine Position oder Assetklasse enorm unter Druck gerät, müssen gegenläufige Investments die Stabilität des Portfolios sicherstellen.
Rückgriff auf Erkenntnisse aus der Welt der Kreditderivate
In diesem Zusammenhang kann auf die Erkenntnisse der Welt der Kreditderivate zurückgegriffen werden. In Kreditportfolien kommt der sogenannten „gemeinsamen Ausfallwahrscheinlichkeit“ enorme Bedeutung zu. Also der Wahrscheinlichkeit, dass zwei Kreditnehmer gleichzeitig einen Zahlungsausfall erleiden. Ersetzt man den Korrelationsparameter in klassischen Portfoliomodellen durch diese Wahrscheinlichkeit, hat dies einen enormen Einfluss auf die Optimierung von Portfolien.
Hierbei spielt die Auswahl der einzelnen Portfoliobestandteile nur eine marginale Rolle – vielmehr ist die Konstruktion der Positionen entscheidend. Also beispielsweise die assetklassenübergreifende Kombinationen von Finanzinstrumenten, um völlig neue und über- legende Auszahlungsprofile zu schaffen, wobei wiederum aus der CDO-Konstruktion bekannte Techniken angewendet werden können. Dies kann durchaus in der Reihe der Separationstheoreme von Fisher und Tobin verstanden werden – es findet nämlich eine Trennung zwischen dem zugrundeliegenden Markt oder Portfolio von der Risikoneigung des Investors und seinem damit verbundenen Auszahlungsprofil statt.
Diese Art des Investierens ist in der realen Investmentwelt nur sehr vereinzelt anzutreffen. Die Protagonisten solcher Methoden sind meist Hedge Fonds, die alternative Strategien in weniger liquiden Märkten mit komplexen Produkten umsetzen. Sie stehen seit langem vor dem Problem, dass die Techniken der klassischen Portfoliotheorie nur äußerst begrenzt angewendet werden können.
Es ist der Komplexität der Problemstellung geschuldet, dass es keine einfache Lösung für jede erdenkliche Situation in der Zukunft geben kann. Viel wichtiger ist allerdings, dass die Analyse spezifischer Situationen und deren gewinnbringende Umsetzung verinnerlicht wird. Ein neues Zeitalter an den Finanzmärkten erfordert auch neue Methoden der Finanzmarktanalyse. Und die klassische Portfoliotheorie kann in dieser Phase des Finanzmarktzyklus – wie lange diese auch immer andauern mag – nur begrenzt Nutzen entfalten.