Vor fünf Jahren standen Banken vor der Herausforderung, Klimarisiken zu messen und in ihr Risikomanagement zu integrieren. Nun gewinnt der Biodiversitätsverlust an Aufmerksamkeit und reiht sich neben Klimarisiken in die politische und aufsichtsrechtliche Agenda ein. Die Erfahrungen aus dem Klimabereich bieten eine wertvolle Grundlage für alle Risikomanagementprozesse. Allerdings sind Biodiversitätsrisiken deutlich komplexer und umfangreicher, was bereits bei der Definition und Identifizierung zu Herausforderungen führt. Viele Institute haben begonnen, ihre Portfolios über etablierte Datenanbieter wie Exploring Natural Capital Opportunities, Risks and Exposure (ENCORE) zu bewerten. Regulatorische Anforderungen gehen jedoch weit über qualitative Heatmaps hinaus. Obwohl in der Szenarioentwicklung und Quantifizierung derzeit noch bedeutende Herausforderungen bestehen, gibt es bereits hilfreiche Ansätze auf dem Markt, mit denen sich Teile des Biodiversitätsrisikos – oder treffender: des ‚Naturrisikos‘ – berechnen lassen.
Die Erfahrungen aus dem Klimakontext bieten eine wertvolle Grundlage für den Umgang mit Naturrisiken. Allerdings bringt letzteres zusätzliche Herausforderungen mit sich, die die Situation erschweren – insbesondere aufgrund des größeren Umfangs und der höheren Komplexität.
1. Hohe Anzahl an Treibern und fehlende Messbarkeit
Neben Klimawandel gelten Land- und Meeresnutzungsänderungen, Verschmutzung, Ressourcennutzung und invasive Arten als die Hauptursachen des Biodiversitätsverlustes. Somit fehlt es für transitorische Biodiversitätsrisiken an einer klar messbaren Metrik, wie bspw. CO2-Emissionen bei Klimarisiken. Auf physischer Seite gibt es zahlreiche Ökosystemleistungen, die Mensch und Wirtschaft verloren gehen könnten. Diese sind häufig schwerer greifbar als physische Klimarisiken und dementsprechend auch schwerer messbar. Hinzu kommt, dass sowohl physische als auch transitorische Risiken von Sektor und Lokation abhängen, was eine enorme Menge notwendiger – und meist nicht verfügbarer – Daten zur sachgerechten Beurteilung der Risiken erfordert.
2. Komplexe, multidimensionale Wirkungskanäle
Naturbezogene Risikotreiber haben im Vergleich zu Klimarisiken besonders hohe Wechselwirkungen untereinander. Eine schlechte Wasserqualität kann sich bspw. auf die Gesundheit von Mensch und Ökosystemen auswirken und Versorgungsengpässe erzeugen, und gleichzeitig auch transitorische Risiken hervorrufen. Dies beschreibt das Prinzip der doppelten Wesentlichkeit und ist im Naturkontext besonders stark ausgeprägt. Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität greifen meist dort am stärksten, wo auch das größte physische Risiko ist, was eine Unschärfe zwischen physischen und transitorischen Risiken erzeugt.
3. Unsicherheiten über zukünftige Entwicklungen
Politische Maßnahmen zur Eindämmung des Biodiversitätsverlustes sind derzeit unzureichend konkret formuliert. Dadurch fehlt es insbesondere für transitorische Szenarioanalysen an klaren Anhaltspunkten. Für physische Risiken, die durch den Verlust von Ökosystemleistungen entstehen, fehlt es – ähnlich den chronischen Klimarisiken – vor allen an vergleichbaren Ereignissen aus der Vergangenheit, was für große Ungewissheiten über alle Risikotreiber hinweg sorgt.
Laut Global Risk Report 2024 [2] des Weltwirtschaftsforums wird das Risiko des Verlusts der biologischen Vielfalt und des Zusammenbruchs von Ökosystemen in den nächsten Jahren von allen Risiken am stärksten zunehmen. Obwohl das Risiko derzeit noch auf Platz 20 aller Risiken steht, wird es laut Bericht in den nächsten zehn Jahren zu einem der drei gefährlichsten Risiken für die Weltwirtschaft werden. Für physische Risiken gibt es derzeit jedoch nur wenige wissenschaftliche Simulationen, die für Szenarionalysen oder Quantifizierungsansätze nutzbar sind.
Auch wenn auf kurzfristige Sicht für die meisten Institute keine großen Effekte aus physischen Biodiversitätsrisiken zu erwarten sind, gilt auf langfristige Sicht für alle Institute und unabhängig vom Geschäftsmodell das Gegenteil. Denn der Verlust von Arten und Ökosystemen ist irreversibel und stört das Gleichgewicht der Natur umfassend, mit größtenteils unbekannten Folgen. Solche Verluste können Kettenreaktionen auslösen, die weitere Arten und Ökosysteme gefährden. Angesichts der rasanten Geschwindigkeit des Biodiversitätsverlusts sind langfristig erhebliche Naturrisiken zu erwarten. Dabei werden makroökonomische und systemische Auswirkungen wie Nahrungsmittelknappheiten und gesundheitliche Gefahren global spürbar sein und breite Teile der Weltbevölkerung betreffen.
Zur Analyse transitorischer Risiken gibt es bereits mehr Analysen am Markt und auch schon erste Quantifizierungsansätze. Um den Umfang und die Komplexität einzuschränken, scheint es sinnvoll, sich auf die wichtigsten Risikotreiber und Wirkungskanäle zu konzentrieren. Öffentliche Bewertungstools wie ENCORE [3] und ein Blick auf die im Rahmen von COP15 [4] gesetzten Ziele zeigen, dass direkte Impacts vor allem in den Primärsektoren entstehen.
Ein großes Thema im Bereich der Naturrisiken ist die Ressourcennutzung. Diese kann durch die High impact commodities list (HICL) des Science Based Targets Network (SBTN) [5] weiter eingegrenzt – und zusammen mit der Wassernutzung – mittels Input-Output-Tabellen modelliert werden. Im Bereich der Flächennutzung gibt es speziell für die vier Primärsektoren Landwirtschaft, Fischerei, Forstwirtschaft und Bergbau einige erste Berechnung zu potenziellen Produktionsabnahmen bzw. Kosten durch Umsiedelungen oder flächenmäßigen Einschränkungen. Auch für Wasser- und Bodenverschmutzung gibt es erste Berechnungen, wie sich politische Düngemittel- und Pestizidanforderungen auf die landwirtschaftliche Produktion auswirken können.
Eine Studie der U.S. Department of Agriculture (USDA) [6] von 2020 berechnet bspw. landwirtschaftliche Output- und Preisänderungen, wenn folgende Maßnahmen bis 2030 greifen würden: Reduktion
- des Pestizideinsatzes um 50%,
- von Düngemitteln um 20%,
- von antimikrobiellen Mitteln in der Viehzucht um 50% und
- der landwirtschaftlichen Fläche um 10%
Eine globale Umsetzung der Maßnahmen würde zu einer Produktionsabnahme von über 12% für Rindfleischbetriebe führen, wobei eine erfolgreiche Preisweitergabe aufgrund nachhaltiger Alternativen nicht zu erwarten wäre. Bei anderen Produkten, wie Reis und Weizen würde es weltweit zu einem Preisanstieg von über 100% – teilweise sogar über 500% – kommen. Ein derart starker Anstieg der Lebensmittelpreise hätte weitreichende Auswirkungen, die über die Landwirtschaft hinausgehen: Nahrungsmittelunsicherheit und potenzielle soziale Unruhen könnten erhebliche makroökonomische Folgen nach sich ziehen.
Neben der Einbeziehung makroökonomischer Folgen, lassen sich die mikroökonomischen Auswirkungen auf die Primärsektoren auch mittels Downstream-Analysen für weitere Sektoren modellieren. De Wertschöpfungen der Primärsektoren bilden die Grundlage des herstellenden bzw. verarbeitenden Gewerbes und machen somit einen zentralen Bestandteil der meisten Lieferketten aus. Abbildung 1 zeigt einen Ansatz, bei dem der Fokus auf transitorische Risiken für die vier Primärsektoren gesetzt wird und finanzielle Schäden für Sekundär- und Tertiärsektoren mittels Downstream-Analysen berechnet werden.

Abbildung 1: Fokussierung auf Primärsektoren mit anschließenden Downstream-Analysen als denkbarer Ansatz zur Quantifizierung transitorischer Risiken.
Der fortschreitende Biodiversitätsverlust droht massive Auswirkungen a unseren Planeten und auf die menschliche Lebensgrundlage zu haben. Es ist daher zu erwarten, dass regulatorische Anforderungen und Erwartungen an Unternehmen und Finanzinstitute weiter ansteigen. Perspektivisch wird es für Banken unerlässlich sein, Impacts und Abhängigkeiten ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten auf und von Biodiversität und Ökosystemleistungen zu messen und zu steuern. Um die Risikobetroffenheit möglichst akkurat bewerten zu können, wird die Offenlegung biodiversitätsbezogener Informationen und Rohdaten seitens der Einzelkunden der Bank zukünftig eine essenzielle Voraussetzung sein. Obwohl aus politischer Sicht noch viele Unklarheiten bestehen und Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität bislang nur wenige konkrete Zielsetzungen enthalten, gibt es bereits Ansätze und Möglichkeiten, Teile des Risikos zu quantifizieren.
Blickt man nach vorne, wird klar: Entweder erfordern die Entwicklungen deutlich strengere politische Maßnahmen, oder wir steuern auf ein Szenario zu, das potenziell schwerwiegende Folgen mit sich bringt – in jedem Fall werden Naturrisiken deutlich an Bedeutung zunehmen.
Quellverzeichnis:
[1] European Central Bank, “Interview with Frank Elderson, Member of the Executive Board of the ECB and Vice-Chair of the Supervisory Board of the ECB, conducted by Martin Arnold on 1 June 2023,” [Online] Available at: Interview with the Financial Times [Zugriff am 11.12.2024]
[2] World Economic Forum, “Global Risk Report 2024,” [Online] Available at: Global Risks Report 2024 | World Economic Forum | World Economic Forum [Zugriff am 11.12.2024]
[3] ENCORE, “Exploring Natural Capital Opportunities, Risks and Exposure,” [Online] Available at: ENCORE [Zugriff am 11.12.2024]
[4] Science Based Target Networks, “high impact commodity list (HICL),” [Online] Available at: Assess – Science Based Targets Network [Zugriff am 11.12.2024]
[5] U.S. Department of Agriculture, “Economic and Food Security Impacts of Agricultural Input Reduction Under the European Union Green Deal’s Farm to Fork and Biodiversity Strategies,” [Online] Available at: USDA ERS – Economic and Food Security Impacts of Agricultural Input Reduction Under the European Union Green Deal’s Farm to Fork and Biodiversity Strategies [Zugriff am 11.12.2024]