Direkt zum Inhalt wechseln

Von Eddy Henning, Michael Torben Menk und Joachim von Schorlemer

Vertreter aus Politik und Wirtschaft sind sich mehrheitlich darüber im Klaren, dass ein europäischer Wirtschafts- und Währungsraum nur dann eine wettbewerbsfähige Zukunft besitzt, wenn es rund zehn Jahre nach dem Aktionsplan der Europäischen Kommission – dem Grünbuch zur Schaffung einer Kapitalmarktunion – endlich gelingt, die gegenwärtig fragmentierten und meist unterentwickelten nationalen Kapitalmärkte final in einen integrierten europäischen Kapitalbinnenmarkt umzuformen. Vorliegender Beitrag zeigt zunächst den Investitionsbedarf für Transformationen auf, der Europa grundlegend und nachhaltig herausfordert. Darüber hinaus sehen die Autoren insbesondere in der Wiederbelebung und Deregulierung des europäischen Verbriefungsmarktes eine beachtliche Chance für Banken und andere Finanzintermediäre, Kapitalmärkte konsequenter und effizienter zu nutzen, um dadurch Freiräume für zusätzliche Kreditvergaben zu schaffen und real- und finanzwirtschaftliche Aktivitäten anzufachen. Nicht unerwähnt lassen die Autoren schließlich das überwiegend kurzfristig ausgerichtete Sparverhalten privater Haushalte, welches sich perspektivisch insofern als Problem herausstellen könnte, als für langfristige Investitionen nicht genügend Kapital aufgebracht wird – auf eine Re-Allokation privaten Kapitals sollte demzufolge hingearbeitet werden.     

Handlungsbedarf offensichtlich – ohne Kapitalmarkt keine Transformation

Auch wenn Banken für das Aufeinandertreffen von Kapitalangebot und Kapitalnachfrage eine ganz wesentliche, allokierende Rolle einnehmen, muss dennoch ein großes Fragezeichen dahingehend gesetzt werden, ob und inwieweit Finanzintermediäre ohne einen komplementierenden, integrierenden Kapitalmarkt den Umbau europäischen Wirtschaftens alleine zu stemmen im Stande sind. Der durch die europäische Bankenbrille betrachtet durchaus berechtigte Gedanke, ausschließlich über Bankbilanzen die von der Europäischen Union gesteckten Ziele wie Dekarbonisierung, Digitalisierung und Diversifizierung – um nur einige wenige hier exemplarisch zu nennen – finanzieren zu können, entpuppt sich relativ schnell als Trugschluss. Schätzungen der Noyer-Gruppe zur Folge beläuft sich der bis 2030 erforderliche, zusätzliche Finanzierungsbedarf womöglich auf rund 1 Billion Euro pro Jahr: Volumina, die weder der europäische Bankensektor noch öffentliche Programme ohne eine flankierend-komplementierende Kapitalmarktunion bewerkstelligen können. Alleine die im europäischen fit-for-55-Package kodifizierte grüne Transformation wird voraussichtlich etwa 500 Milliarden Euro an investiven Ausgaben pro Jahr abverlangen. Darüber hinaus werden für die Digitale Transformation Finanzmittel in Höhe von jährlich rund 125 Milliarden Euro benötigt. Für Verteidigung und sonstige Investitionen könnten womöglich weitere, derzeit nur grob kalkulierbare 300-400 Milliarden Euro Kapital pro Jahr aufzubringen sein, wie aus ► Abb. 01 hervorgeht. Vor dem Hintergrund, vorgenannten, weitreichenden Transformationsprozess erfolgreich bewältigen zu können – damit einhergehend die Attraktivität Europas für außereuropäische Investoren zu erhöhen und die globale Wettbewerbsfähigkeit Europas zu stärken – scheint ein leistungsfähiger, tiefer und liquider Kapitalbinnenmarkt mit einer effektiven Risikoteilung unausweichlich.

Abb. 01: Zusätzliches europäisches Investitionsvolumen bis 2030 – pro Jahr

Europäischer Kapitalmarkt gilt derzeit als unterentwickelt und fragmentiert

Anders als in den Vereinigten Staaten von Amerika fällt Banken in Europa sowohl auf der Kapital-vergebenden als auch auf der Kapital-einnehmenden Seite eine herausragende Rolle zu. Gleichermaßen Unternehmen wie private Haushalte finanzieren ihre Investitionen ganz überwiegend bei ihrer Hausbank, Unternehmen etwa zu 70% respektive private Haushalte sogar zu rund 90%. Entsprechend kommen Kapitalmarktfinanzierungen in Europa kaum zum Zuge. Nahezu die gegenläufigen Relationen – und dies erscheint wenig überraschend – zeigen sich jenseits des Atlantiks. Keineswegs darf daraus die Schlussfolgerung gezogen werden, Banken würden in den USA keine wichtige Funktion übernehmen. Ganz im Gegenteil – Banken agieren neben ihrem Kerngeschäft als Market Maker, Asset Manager und Brückenbauer zwischen Marktteilnehmern, nicht zuletzt durch Verbriefungen, wie weiter unten noch dargestellt wird.        

Gravierende Kapitalmarkt-bezogene Unterschiede zwischen den USA und Europa, die eine relative Unterentwicklung und Fragmentierung europäischer Märkte signalisieren, treten primär auf dem Equitymarkt auf. Lediglich gut ein Zehntel der globalen Marktkapitalisierung entfällt auf den europäischen Aktienmarkt, wohingegen der amerikanische rund 45% des weltweiten Marktvolumens für sich beansprucht. Dagegen beträgt die anteilige Wertschöpfung Europas an der globalen Wertschöpfung (GDP) knapp 18%, also rund sieben Prozentpunkte mehr als die relative Marktkapitalisierung von Eigenkapital. Unter anderem hieran lässt sich die Verzerrung zwischen Wertschöpfung und Kapitalmarkt gut ablesen. Nicht nur ein relativ zu kleiner europäischer Kapitalmarkt im Gesamten erschwert die langfristige Finanzierung von voluminösen Investitionen, auch innerhalb Europas blockieren zersplitterte, individuell-nationalstaatliche Kapitalmärkte die Vollendung eines einheitlich-wettbewerbsfähigen und damit für europäische und nichteuropäische Investoren attraktiven Kapitalmarktes. Neben der Untersuchung quantitativer Kriterien wie Kapitalmarktgröße und Kapitalmarkttiefe sollte auch die Analyse infrastruktureller und institutioneller Rahmenbedingungen in Europa nicht in Vergessenheit geraten. Mitunter wäre in Erwägung zu ziehen, bestehende und vor allem potenziell neue Kapitalmarktteilnehmer dahingehend zu animieren und zu incentivieren am Kapitalmarkt aktiv(er) zu werden, ihnen geringere administrativ-technische Kosten aufzubürden und sie nicht mit zusätzlichen regulatorischen Barrieren und Formvorschriften über Gebühr zu belasten und womöglich auszubremsen.

Essenziell: Wiederbelebung des europäischen Verbriefungsmarktes

Mit dem theoretischen und praktischen Wissen, dass einerseits Verbriefungen eine Brücke zwischen Bankenfinanzierung und Kapitalmarktfinanzierung schlagen können, dass andererseits das regulatorische Rahmenwerk mit CRR, VVO, zahlreichen RTS und EBA-Guidelines sowie weiteren Detailregelungen – sprich restriktive wie prohibitive (Markteintritts-) Hürden – den europäischen Verbriefungsmarkt nicht in Fahrt kommen lassen, sollte im Zuge eines integrierten europäischen Kapitalbinnenmarktes ein weiter Kreis von kleinen, mittleren und großen Banken in die Lage versetzt werden, anhand von Forderungsverkäufen und Risikoausplatzierungen Freiräume für zusätzliche Kreditvergaben und Neugeschäfte zu schaffen, zudem als Investoren in erstrangige Verbriefungspositionen aktiv zu werden mit dem Ziel, Drittbanken zu entlasten und mit zusätzlicher Liquidität zu versorgen.

Auch wenn Politik und Aufsicht versuchen, die für Verbriefungen überproportional hohen Kapitalanforderungen der CRR – Stichwort Nicht-Neutralitäts-Prinzip – durch erhöhte Modell- und Agency-Risiken zu rechtfertigen, sollte die empirisch nicht belegbare, pauschale Überkapitalisierung konzeptionell auf den Prüfstand gestellt werden. Reduziert werden könnte die Überkapitalisierung beispielsweise durch risikosensitive und differenzierte Senior-Floors in den formelbasierten Ansätzen (SSFA). Risikoadäquate Floor-Level, die sich an dem IRBA bzw. SA-Referenzportfolio orientieren, wären die Folge. Speziell für bonitätsstarke und risikoarme Referenzportfolios fallen die derzeitigen starren Floor-Level entschieden zu hoch aus. Sowohl im SEC-IRBA als auch im SEC-SA könnte der Überkapitalisierung etwa durch Absenkung der p-Faktoren entgegengewirkt werden, wie aus ► Abb. 02 zu entnehmen ist. Gepaart mit der Abschaffung einer zeitlichen Befristung (Art. 465(13) CRR) sollte insbesondere die Halbierung des p-Faktors gestrichen werden. Stattdessen wäre zu empfehlen, keine festen numerischen p-Faktoren – von aktuell 0,25 für STS-Verbriefungen (Art. 262 CRR) und 0,50 für Nicht-STS-Verbriefungen (Art. 261 CRR) – zu verwenden, sondern lediglich auf eine „Halbierung der in Art. 261 und Art. 262 CRR genannten Werte“ abzustellen. Damit würde nicht nur der allgemeinen Komplexitätsreduktion Rechnung getragen – vielmehr könnte eine mögliche spätere Anpassung der p-Werte mit wesentlich geringem Nachjustierungsaufwand erfolgen.

Losgelöst der Modifikationen am europäischen Verbriefungsregularium, die der Überkapitalisierung entgegentreten und den allgemeinen Komplexitätsgrad zu verringern beabsichtigen, liegt ein besonderes Augenmerk auf der für LCR-Zwecke notwendigen Anerkennung von Verbriefungspositionen als High Quality Liquid Assets (HQLA). Schließlich stufen Bankinvestoren (Treasurer) die Kosten in Form von Sicherheitsabschläge (Haircuts) einer derzeit nur als HQLA 2b eingestuften AAA-Senior-Tranche regelmäßig höher ein als den Nutzen einer notenbankfähigen Verbriefungsposition. Demzufolge wäre in Erwägung zu ziehen, Senior STS-Verbriefungen als hochliquide Aktiva der Stufe 2a und Senior-Nicht-STS-Verbriefungen als hochliquide Aktiva der Stufe 2b anzuerkennen. Gleichzeitig könnte die Attraktivität für Investoren durch eine Anpassung der Sicherheitsabschläge dahingehend gesteigert werden, als diese auf ein vergleichbares Niveau mit Covered Bonds und Unternehmensanleihen gebracht würden. Vorgenannte Korrekturmaßnahmen tragen letztlich auch dem Oberziel Rechnung, gesamtwirtschaftliche Finanzmarktstabilität sicherzustellen, welche nicht zuletzt als Resultat steigender Marktliquidität und steigender Liquidität der kreditgebenden Banken erstrebenswerter Weise zu konstatieren wäre.        

Abb. 02: Regulierung von Verbriefungen: Anpassung der Floor-Kapitalisierung und LCR-Fähigkeit  

Privates Sparkapital für europäische Langfrist-Investitionen re-allokieren  

Neben der Wiederbelebung des europäischen Verbriefungsmarktes sollte seitens der Wirtschaft und Politik angestrebt werden, private Haushalte zu einem angepassten, langfristig ausgerichteten Sparverhalten zu bewegen, um Kapital – im Sinne der Sparer und im gesamtwirtschaftlichen Sinne – der bestmöglichen Verwendung zuzuführen. Traditionsgemäß sparen europäische (deutsche) Haushalte mit derzeit rund 13 % (20%) ihres verfügbaren Einkommens wesentlich mehr als amerikanische Haushalte, die lediglich etwa 8% ihrer Einnahmen bei Seite legen. Während amerikanische Haushalte ihr Erspartes überwiegend in langfristig orientierte Eigen- und Fremdkapitaltitel wie Aktien, Anleihen und Fonds anlegen, parken europäische Haushalte ihr Geld mehrheitlich in kurzfristigen, meist festverzinslichen Spar-, Termin- und Sichteinlagen. Zu beobachten ist zudem, dass langfristig investiertes Kapital häufig aus dem europäischen Wirtschaftsraum abfließt, wohingegen außereuropäische Investoren europäische Unternehmen mit langfristigem Eigenkapital ausstatten. Sowohl das europäisch-etablierte Kurzfrist-Anlageverhalten wie auch der Langfrist-Nettokapitalabfluss signalisieren angesichts einer immer älter werdenden Bevölkerung bei gleichzeitig nicht üppig gefüllten Staats- und Sozialkassen den Re-Allokationsbedarf privaten Kapitals. Private Haushalte für Teile ihrer Ersparnisse an den Equitymarkt und an den Bondmarkt zu bringen, kann neben der Revitalisierung europäischer Verbriefungsmärkte einer der Schlüssel sein, notwendige grüne und digitale Zukunftsinvestitionen finanzieren zu können. Denn wie auf Mikro-Ebene im unternehmerischen Umfeld sollte auch im volkswirtschaftlichen Kontext auf Makro-Ebene der Fristenkongruenz Rechnung getragen werden: langfristige Investitionen – langfristig finanzieren.   

Leitmaxime muss lauten: Europa wettbewerbsfähig in die Zukunft steuern 

Vielleicht mehr denn je muss Europa alle Hebel in Bewegung setzen, eine wirtschaftlich prosperierende Zukunft für 450 Millionen Menschen sicherzustellen. Vorliegender Beitrag unterstreicht die Dringlichkeit, Europa im globalen Wettbewerb zu behaupten und dessen Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit durch Vollendung einer Europäischen Kapitalmarktunion – vorteilhaft für Investoren und Emittenten zugleich – zu steigern. Empirische Studien belegen den Zusammenhang zwischen Kapitalmarktentwicklung, Wachstum und Produktivität. Gelingt es Europa nicht, die gegenwärtig fragmentierten nationalen Kapitalmärkte zu einem einheitlichen europäischen Kapitalbinnenmarkt weiterzuentwickeln, verliert Europa gegenüber den USA, China und anderen aufstrebenden Volkswirtschaften weiter an Boden – dies gilt es zu verhindern. Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, darf allerdings nicht als isoliertes Ziel formuliert werden, vielmehr in enger Abstimmung mit Integrität und Stabilität, wie aus ► Abb. 03 hervorgeht. Nur unter Beachtung dieses Dreiklangs gelingt es Europa in Gänze, nachhaltig auf den Wachstumspfad zurückzukehren. Zum Wohle aller Europäer.   

Abb. 03: Europäischer Kapitalmarkt im Dreiklang: Wettbewerbsfähigkeit, Integrität und Stabilität

Literatur

Bundesverband Deutscher Banken (2024): Positionspapier des Bankenverbandes zur Vertiefung der Kapitalmärkte.

Bundesverband Deutscher Banken/True Sale International (2024): Europas Wettbewerbsfähigkeit stärken: Chancen durch Verbriefungen nutzen; Abschlussbericht der „Taskforce“ Verbriefungen.

Draghi (2024): The future of European competitivenes – Part 1: A competitivenessstrategy for Europa.

Noyer et.al. (2024): Developing European Capital Markets to finance the Future – Proposals for a Savings and Investments Union.

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2023): Kapitalmarkt in Deutschland und der EU: Potenziale besser nutzen; in: Jahresgutachten 2023/24.

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2024): Stärkung der Europäischen Kapitalmärkte, Policy Brief 2/2024.

True Sale International/Stiftungsprojekt Kapitalmarktunion (2023): Die Herausforderung der Transformationsfinanzierung für Unternehmen und Banken in Deutschland – Verbriefungen als Instrument zur Verbindung von Bankkredit und Kapitalmarkt; Abschlussbericht der Arbeitsgruppe “Verbriefungsplattform”.

Wirtschaftsrat Deutschland (2024): Wettbewerbsfähige Finanzmärkte für ein starkes Euro, Positionspapier.

Autoren

Eddy Henning

Mitglied des Vorstands
ING-DiBa AG, Frankfurt am Main

Prof. Dr. Michael Torben Menk

Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg

Dr. Joachim von Schorlemer

Berater, ehemaliger ING-DiBa-Vorstand