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Mit der EU-Umsetzung von Basel IV scheint die Modernisierung der Messung finanzieller Risiken, die durch die Basel-II-Reformen von 2008 eingeleitet wurde, weitgehend zurück gebaut zu werden. Darüber hinaus gibt es weiterhin Stimmen, die weit über eine Verringerung übermäßiger Variabilität in Kapitalanforderungen, die im Rahmen der EU-CRR3-Rechtsvorschriften vorgesehen sind [BCBS 2017], hinausgehen. Dieser Artikel ist ein Plädoyer dafür , präzise Risikomessung wiederzubeleben und Risikomanagementprozesse auf ihre Wirksamkeit hin zu überdenken, anstatt den Finanzsektor in diesem Zusammenhang weiter in das intellektuelle Mittelalter abgleiten zu lassen.

Im Oktober 2024 war ich zu einer Buchvorstellung an der Goethe-Universität Frankfurt eingeladen, die vom Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE organisiert wurde. Zentraler Bestandteil des Programms war die aktualisierte Auflage des Buches „The Banker’s New Clothes“ von Anat Admati und Martin Hellwig [Admati/Hellwig 2024]. Beide Autoren waren anwesend und wurden von einem ebenso hochkarätigen Podium aus Vertretern der Finanzindustrie begleitet[1].

Die zentrale Botschaft, die beide Autoren während der Diskussion vermittelten, war, dass Banken trotz aller nach der Finanzkrise 2007-2009 getätigten regulatorischen Reformen für die von ihnen getragenen finanziellen Risiken nach wie vor unzureichend kapitalisiert sind. Begleitet wurde diese These von populären Behauptungen, dass Banker sich der Bedrohungen für das Finanzsystem nicht bewusst seien und dazu neigen, seine Komplexität auszunutzen, um relevante regulatorische Anforderungen zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen. Die weiteren Diskussionsteilnehmer wehrten sich tapfer gegen diese Vorwürfe. Doch auch nach einer guten Stunde Debattierens konnten beide Seiten ihre Differenzen nicht beilegen.

Was mich dazu veranlasst hat, diesen Artikel zu schreiben, war der ultimative Vorschlag beider Autoren, die Kapitalanforderung eines Finanzinstituts auf einen festen Betrag von etwa 20% dessen Bilanzsumme zu erhöhen. Meiner Ansicht nach ist ein solcher Vorschlag nichts anderes als ein Rückfall zum Kapitalregime von Basel I aus dem Jahre 1988 – zu einem 2,5-mal höheren Satz (eigentlich viel mehr, da der Anwendungsbereich über Ertrag bringende Aktiva hinausgehen würde). Ich bin sicher, dass Akademikerinnen und Akademiker rund um den Globus mehr als derart stumpfe Instrumente zu bieten haben.

Aber auch andere Akteure des Finanzsystems sollten ihre Rolle überdenken oder zumindest reflektieren, wie sie diese wahrnehmen. Lassen Sie mich einige Aspekte nennen, die dabei berücksichtigt werden sollten:

Finanzinstitute haben ein vitales Interesse daran, ihre Risiken angemessen zu messen

Banken handeln mit Geld und gehen dabei bewusst Risiken ein. Sie haben keinerlei Interesse daran, Geld zu verlieren –  unabhängig von der zugrundeliegenden Ursache, d.h. ob Verluste auf Positionen, fehlerhafte Prozesse oder auf unkontrollierbare äußere Ereignisse zurückzuführen sind.

Gute Messverfahren für alle bekannten (und unbekannten) Risiken ermöglichen ein besseres Risikomanagement durch verbesserte Kontrollen und eine effektivere Ressourcenallokation. Übermäßig komplexe Modelle zur Risikomessung können jedoch ansonsten sichtbare Risiken verschleiern und Bankressourcen fehlleiten. Wenn eine beträchtliche Anzahl von Mitarbeitern eher dafür eingesetzt wird, um Ergebnisse von Modellen zu optimieren, anstatt ihre Präzision zu verbessern, ist dies ein starkes Warnzeichen dafür, dass das Risikomanagement aus dem Fokus geraten ist. Es liegt in der Verantwortung eines jedes Finanzinstituts, hier das richtige Gleichgewicht zu wahren.

Risikomanagement erfordert risikosensitive Kapitalanforderungen

Trotz der offensichtlichen Schwächen, die in seinen Anfangsjahren zu Tage traten, wurden, stimme ich nicht mit Aussagen überein (die in der bereits erwähnten Buchvorstellung prominent wiederholt wurden), die Basel II als Fehlschlag bezeichnen. Das Basel-II-Rahmenwerk und insbesondere seine Entstehung haben ein bedeutend  tieferes Verständnis von Bankrisiken und ihrer Abhängigkeiten gefördert als alles andere zuvor. Banken erhielten Anreize, eigene Risikomessungs- und managementinstrumente zu entwickeln. Gleichzeitig wurden zugehörige Kontrollrahmen verbindlich (z. B. [FRB 2011]).

Unter dem Eindruck der Lehman- und Eurokrise hat Basel III die Situation eher verschlimmert, da es versuchte, Verbesserungen durch teilweise mehr Komplexität und zusätzlichen Konservatismus herbeizuführen. Ein Beispiel hierfür ist die Einführung der Advanced Credit Valuation Adjustment Risk Capital Charge für das Kontrahentenausfallrisiko [vgl. BCBS 2011, Kap. II A.].

Basel IV hat nun mehreren fortschrittlichen Ansätzen zur Quantifizierung der Profile bestimmter Risiken von Finanzinstituten den Stecker gezogen. Ein prominentes Beispiel ist die Stilllegung aller Advanced Measurement Approach (AMA)-Modelle für operationelle Risiken. Während Basel II eine industrieübergreifende Zusammenarbeit förderte, um die Natur dieser Risiken zu verstehen, Verlustdaten zu bündeln und Managementprozesse aufeinander abzustimmen, wird der neue rein umsatzbasierte Standardmessansatz (SMA) [BCBS 2017 pp128] diese Partnerschaften mit Sicherheit beenden. Dies ist eine logische Konsequenz, denn die überarbeitete Eigenmittelanforderung hat nichts mehr mit den Treibern der operationellen Risiken zu tun. Womit die bisherigen Nutzer gezwungen sind, auf weniger streng kontrollierte interne Modelle zurückzugreifen, um das operationelle Bedrohungspotenzial ihres Instituts zu verstehen.

Suchen Sie die richtige Balance zwischen Transparenz und Komplexität

Das Streben nach Präzision in der Risikomessung verstellt gelegentlich den Blick auf das zu quantifizierende Objekt. Überbordend komplexe Modelle neigen dazu, normale Benutzer abzuschrecken und fördern Arbitrage. In der Regel ist es weit vorteilhafter, primär die Sensitivitäten denn die absoluten Werte einer Risikometrik präzise zu ermitteln (natürlich mit der Ausnahme, wenn die betreffende Risikometrik selbst eine Sensitivität ist).

Die wahre Herausforderung für die Nutzung und Akzeptanz von Modellen liegt jedoch im unangemessenen Konservatismus, der oft durch regulatorische Vorgaben auferlegt ist. Es gibt einen natürlichen Reflex, um die Unsicherheit des Modells mit Aufschlägen aller Art zu mildern, von denen einige über das Ziel hinausschießen und eine weitere Entwicklung lähmen. So haben beispielsweise die EBA-Leitlinien für IRBA-Parameter zu Recht sogenannte Margins of Conservatism für Modellschwächen eingeführt, schlagen aber deren additive Verwendung vor. Darüber hinaus zwingen starre Anforderungen an statistische Signifikanz immer mehr risikoarme Kreditportfolios in Standardansätze und damit fern einer korrekten Risikobewertung [vgl. EBA 2017 Kap. 4.4 & 9].

Weitere Beispiele sind Vorbehalte, modellbasierte Ansätze für die Transaktionsüberwachung zur Identifizierung von Geldwäscheaktivitäten zuzulassen [BaFin 2024, Kap. 5.5.1]. Diese Regelung hindert die Banken daran, ihre Untersuchungen verdächtiger Zahlungsmuster auf Fälle mit einer hohen Erfolgsquote zu konzentrieren. Stattdessen werden grobe regel-basierte Untersuchungen vorgeschrieben, die zu einem überwältigend hohen Anteil irrelevanter Geldwäschewarnungen führen.

Wir brauchen mutigere politische Entscheidungsträger, die gelegentliche Fehler in den Prognosen und Schätzungen der Bank akzeptieren, um zu ermöglichen, dass die resultierenden Ergebnisse unter dem Strich näher an der Realität liegen.

Das Verständnis des Aufsichtsmodells ist entscheidend

Es liegt in der Natur ihrer Aufgabe, dass politische Entscheidungsträger in der Regel keinen ausreichenden Einblick in die täglichen Aktivitäten von Banken zur Portfoliosteuerung haben. Dies kann zu unvollständigen oder fehlerhaften Schlussfolgerungen führen (vgl. z.B. [Paus 2024] in Bezug auf [Faccia / Hünnekes / Köhler-Ulbrich 2024]). Aber Aufsichtsbehörden haben sowohl das Mandat als auch die Qualifikationen, um tief in solche Prozesse und die darin integrierten Modelle einzutauchen.

Leider neigen aufsichtsrechtliche Prüfungen immer noch oft dazu, sich auf regulatorische Regeln zu konzentrieren und wertvolle Zeit mit der Auslegung von Gesetzestexten zu verschwenden, anstatt sich den Risikothemen zu widmen. Auch hier kann die Regulierung die Perspektive verstellen: so wird z.B. im EBA-Stresstest 2025 die Reduzierung des operationellen Risikokapitals in einem wirtschaftlichen Abschwung konservativ verboten [vgl. EBA 2024 Kap. 5.5], obwohl der erwähnte SMA genau auf diese Sensitivität ausgelegt ist.

Aufsichtsbehörden müssen dazu ermutigt werden, sich bei der Inspektion eines Instituts eingehend mit der Realität des täglichen Risikomanagements auseinanderzusetzen und zu versuchen, ein Verständnis dafür zu entwickeln, welche Situation interne Aktivitäten bewirken und welche nicht.

Risikomanagement braucht frische akademische Ideen in Verbindung mit einfacherem Zugang zu Daten

Die Ziele bzw. Mandate von Finanzinstituten, Regulierungs- und Aufsichtsbehörden bergen das Risiko, den Blick dafür, wie das globale Finanzsystem transparenter und robuster gestaltet werden kann, zu verschleiern. Beratungsunternehmen können helfen, Zusammenhänge besser zu erkennen, unterliegen aber auch Abhängigkeitsstrukturen zu ihren Kunden. Für unvoreingenommene, qualitativ hochwertige Ideen von außen ist niemand besser aufgestellt als die Wissenschaft.

Ein häufiges Hindernis für konkretere Forschung ist jedoch der eingeschränkte Zugang zu bankinternen Daten. Andererseits fürchten Banken Reputationsrisiken dadurch, dass vertrauliche Informationen über ihre Kunden publik werden. Um die Kluft zwischen diesen beiden legitimen Interessen zu überbrücken, können Initiativen zur Datenbündelung helfen. Dies erfordert jedoch einen robusten Rechtsrahmen, der es dem Datenanbieter ermöglicht, Informationen auszutauschen, ohne Verstöße gegen die zahlreichen Datenschutzgesetze zu riskieren. Ein solcher Rahmen kann wiederum nur von politischen Entscheidungsträgern geschaffen werden.

Wir alle müssen uns ändern und gegenseitig helfen

Keiner der Punkte, die ich oben erwähnt habe, ist wirklich neu. Aber das war auch das Fazit des hochkarätigen Plenums, welches ich in der Einleitung erwähnt habe. Meine Schlussfolgerung ist, dass alle oben genannten Beteiligten einen Schritt zurücktreten sollten und einen tieferen Blick darauf zu werfen, was ihre Mitstreiter antreibt, um anschließend einige ihrer eigenen Paradigmen zu überdenken.

Um es ganz offen zu sagen: zur Gestaltung unseres Finanzsystems zum Besseren braucht es bescheidenere Banker, wagemutigere politische Entscheidungsträger, wissbegierigere Aufseher und aufgeschlossenere Akademiker. Egal welchem Lager Sie auch angehören: bitte machen Sie den ersten Schritt.

Referenzen

Admati, A./Hellwig M. [2024]: The Banker’s New Clothes, 2nd ed., Princeton University Press, Princeton 2024

Basel Committee on Banking Supervision [2011]: Basel III: A global regulatory framework for more resilient banks and banking systems, Bank for International Settlements, Basel, 2011

Basel Committee on Banking Supervision [2017]: Basel III: Finalising post-crisis reforms, Bank for International Settlements, Basel, 2017

Board of Governors of the Federal Reserve System [2011]: SR 11-7: Guidance on Model Risk Management, Washington, D.C. 2011

Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht [2024]: Auslegungs- und Anwendungshinweise zum Geldwäschegesetz, Bonn 2024

European Banking Authority [2017]: EBA/GL/2017/16: Guidelines on PD estimation, LGD estimation and the treatment of defaulted exposure, London, 2017.

European Banking Authority [2024]: 2025 EU-Wide Stress Test – Methodological Note, Paris, 2017.

Faccia, D. / Hünnekes, F. / Köhler-Ulbrich, P. [2024]: What drives banks’ credit standards? An analysis based on a large bank-firm panel, Frankfurt am Main 2024, European Central Bank Working Paper Series No. 2902.

Paus, W. [2024]: What drives banks’ credit standards? An analysis based on a large bank-firm panel – Discussion, Frankfurt am Main 2024, FIRM Forschungskonferenz


[1] Bestehend aus Martin Blessing (Chairman of the Board of Directors der Danske Bank), Simon Gleeson (Clifford Chance) sowie als Moderator Mark Whitehouse (Bloomberg).

Autor

Dr. Wilfried Paus

Vorsitzender Beirat Praxis
FIRM